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Ist reisen für 9€ ästhetisch?

Ist reisen für 9€ ästhetisch?

Einfach mal raus, durchlüften und zugleich umweltfreundlich unterwegs sein – eine gute Idee? Welchen Wert hat dies? Abgesehen davon, daß die Eisenbahn marode und überlastet – um nicht zu sagen: vollkommen unvorbereitet ist. Überfüllung mutiert zum Streßfaktor. Und bei pandemieperforierten Massengesellschaftsmitgliedern dürfte dies zu blank liegenden Nerven führen.

Oder handelt es sich etwa um eine totalitäre „Erziehungsmaßnahme“, um Menschen wieder aneinander zu gewöhnen? Vermutlich wird nicht einmal der übelste Lump im Land, der Denunziant, in seiner untertänigen Art, einen Funken Sinn und Nutzen in solchen Zuständen erkennen und Dankbarkeit verspüren, ganz zu schweigen von einem mündigen und bürgerlich-freiheitlich gesinnten Flaneur.

Doch was kann eben dieser tun, wenn er auf dem Weg zum Busen der Natur technische Hilfsmittel benötigt? Kurz gesagt: Ohne fundamentale Veränderungen wird es kaum gehen. Doch wollen wir genauer hinsehen: Auch mit vermasstem Fahrgastaufkommen wird es Schwankungen in der absoluten Auslastung eines Verkehrsmittels geben, abhängig vom Wochentag und der Uhrzeit.

So werden es viele Zeit-Genossen als Privileg empfinden, für 2 Tage die Woche aus dem Hamsterrad der täglichen Entbehrungen entsteigen zu dürfen. Hier bietet sich dem Flaneur die Möglichkeit, antizyklisch zu handeln: Wie wäre die Freiheit, zu Schwachlastzeiten zu reisen? Scheitert es am Job? Da waren zwei Jahre Pandemie ein Menetekel: Immer mehr Menschen sind verheizt und ausgebrannt. Psychologen haben chronisch lange Wartelisten und bieten wenig Perspektiven. Der Vorteil ist, daß Hilfe zur Selbsthilfe noch nie so einfach war:

Eine Auszeit von belästigender Berufstätigkeit ist schnell und einfach mit Erschöpfung begründet – und ebenso warheitsgemäß. Bloß weil ein Mensch sein Hamsterrad anhält, bleibt er selbst nicht stehen. Vielmehr entschleunigt er sein Dasein und gibt sich und seiner Seele die Chance, die eigene Wirksamkeit in der Welt neu zu ergründen. Der Flaneur verlangsamt seinen Lebenswandel auf ein artgerechtes Tempo.

Doch nun zur Praxis: Auf einer Probefahrt wenige Tage nach Einführung des 9€-Fahrscheines wird sogleich der Schaffner befragt. Er konstatiert für den gegenwärtigen Zug, auf einer Fahrt entlang der Marschbahn an einem Freitag Morgen, ein 9€-Fahrkartenaufkommen von 90% der Gesamtfahrgäste. Sogleich mischt sich ein Pärchen, das die Konversation mitgehört hat, ein und bekennt sich zur 9€-Gesellschaft. Es wird ergänzt, man habe sich dem Gedrängel entziehen wollen und nehme daher einen besonderes frühen Zug.

Der Befund ist ambivalent: Einerseits hatten diese Fahrgäste sich auf eine Art des Absonderns aus der Vermassung gekümmert, was begrüßenswert erscheint, da sie etwas taten, doch andererseits ließ sich beobachten, daß ein veganer und klimagerechter Nahrungsstil vorherrschte, der sich darin inkonsequent erwies, daß man Südfrüchte konsumierte, die nicht in Dithmarschen oder Friesland wachsen. Somit bricht es seine eigenen Ideale. Dies ist jedoch typisch für die Massengesellschaft und für deren Protagonisten unerheblich. Jenen fällt dies bisweilen nicht einmal auf. Einem Flaneur hingegen sticht so etwas ins Auge.

Hier ist festzuhalten, daß der 9€-Billig-Stil mit einer Aspiration zu einer gewissen Privilegiertheit kollidiert. Solch eine emporgeklommene Mentalität hätte Hannah Arendt als spießbürgerlich bezeichnet.

Flaneure und weitere der Ästhetik des Reisens verschriebene Menschen dürften hierin wohl eher eine Verdeutlichung denn eine Verschlimmerung der desolaten Zustände im deutschen Bahnwesen erkennen. Angesichts einer galoppierenden Verteuerung und der damit einhergehenden Verknappung lebensnotwendiger Güter wirkt die Förderung des Spottbilligen wie Kuchen statt Brot, das das verarmte Volk doch essen möge.

Wer die Ästhetik des Reisen bewahren möchte, ist gut beraten, ein hochwertiges und geräumiges Reiseerlebnis anzustreben. Einen Zeitpunkt zu wählen, wo die Massen im Hamsterrad laufen – etwa unter der Woche – scheint ratsam, ebenso die Wahl einer höheren Wagenklasse. Ebenso ist die Wahl einer höheren Produktklasse, d. h. einem Fernzug, wo verfügbar, empfehlenswert, um Abhilfe zu schaffen.

Jede der vorgenannten Maßnahmen lassen sich beliebig und nach Können und Vermögen kombinieren. Indes ist es, sofern die Ziele entsprechend gesetzt sind, in keiner Weise läßlich oder gar schändlich, den vorgenannten Kriterien nicht zu entsprechen. Vielmehr sollte ein Flaneur hierin eine Motivation erkennen, nach einem gedeihlichen Lebenswandel mit hinreichend Gütern zu streben, um die ästhetischen Mindestanforderungen zu erfüllen. Er kann dies sogar zur Lebensvision erheben.

Dies kann nach einem längeren Verbleib im Nagetierkarusell als Maßnahme gegen die Erschöpfung der Seele (Burnout) nötig werden. Hier sollte sich ein Flaneur nicht zu schade sein, sich, zur Arbeit unfähig, vertrauensvoll an den Medizinmann vom Stamme der Äskulapen zu wenden.

Dies macht zumindest und zunächst zeitliche Ressourcen frei, bis der allmählich wiedererstarkende Flaneur neben seiner Leidenschaft auch seine Schaffenskraft regeneriert. Sein schöpferischer Geist vermag vielmehr die Art seines Brötchenerwerbs zu verändern, um die Güter zu mehren. Die Selbstwirksamkeit gilt insbesondere aus für die Form des Wirtschaftens.

Zeitsprung ins Jahr 2023: Das 9€-Ticket ist nun Geschichte, und sogar das Tragen von Gesichtswindeln ist nun auch in der Bundesrepublik mit knapp einem Jahr Verspätung auf dem auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Es soll, so rauscht der Blätterwald und orakelt die Politik, für das letzjährige Sardinen-Sommermärchen nun tatsächlich einen Nachfolger geben: Dieser digitale Fahrausweis soll nun 49€ pro Monat kosten.

Unter Eisenbahnern wird bereits gemunkelt, daß es mit der landesweiten Gültigkeit nicht unbedingt weit her sein muss. Zu verlustträchtig sei das Geschäft für einige Verkehrsunternehmen. Und es wird das Glücksgefühl von Inhabern der schwarzen Mamba auch nicht steigern, wenn sie sich auf alternativlosen Nahverkehrszwangsfahrten mit Minderzahlern ein Abteil, sofern man davon reden kann, teilen müssen.

Es wirkt wenig vorausschauend, wenn Infrastruktur verkommt und zugleich überausgelastet wird. Wenn nachhaltig = vorausschauend geplant bedeutet, was für einen Flaneur dem Anspruch an Ästhetik zumindest ein wenig entgegen käme, so muss man hier zum Schluss kommen, daß das Lebensgefühl in einem rumpelnden Vorortszug in Bombay vermutlich ähnlich wäre. Nur daß mangels Glasscheiben die Belüftung nicht an einer (defekten) Klimaanlage scheitert.

Sven Stemmer

Arnold Welsch

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