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Der Dom zu Wetzlar

Der Dom zu Wetzlar

Manchmal verschlägt es mich eher zufällig – glaubte ich an so etwas – an Plätze, deren Namen mir durchaus bekannt, weil in verschiedenen Zusammenhängen schon einmal begegnet sind, ohne daß ich mir ihre Bedeutung vergegenwärtigen könnte. Wetzlar ist so ein Ort. Kaum, daß ich es auf der Karte ohne Weiteres gefunden hätte, wurde mir doch schnell klar, warum ich den Namen kenne. War die Stadt doch von 1689 bis 1806 Sitz des Reichskammergerichts, an dem Goethe, wohl auf Anweisung seines Vaters, seiner juristischen Karriere von Mai bis September 1772 als Praktikant den entscheidenden Schub geben sollte. Bedeutender dürfte für ihn indes die Begegnung mit Charlotte Buff gewesen sein, die ihm neben der halbherzigen Erwägung eines Freitodes auch ‚Die Leiden des jungen Werther‘ und mit ihm seinen frühen Weltruhm bescherte.

Selbstredend bemühen sich die wackeren Wetzlarer nach Kräften Goethes kurzen aber intensiven Aufenthalt zu bewirtschaften, was rasch ins Auge fällt, flaniert man durch die hübschen Gässchen der Altstadt.


Irgendwann lenken sich die Schritte dann auch auf den Domplatz, auf dem sich ein überraschender Anblick bietet. Der Wetzlarer Dom nämlich ist ein Sakralbau, wie sich kaum ein zweiter finden dürfte. Ineinander verschachtelt sind Elemente verschiedener Bauabschnitte und Stilepochen – nicht unbedingt fertiggestellt – was ihn in Teilen wie eine Ruine wirken lässt. Seit über tausend Jahren schon steht an dieser Stelle eine Kirche, die immer wieder neuerrichtet und umgebaut wurde, so daß sie sich fast organisch zu dieser eigenwilligen Form auswuchs. Man sieht entlang ihrer Versatzstücke durch die Jahrhunderte, sieht romanische und gothische Elemente, Sandstein und Ziegel und auch ungelenk verputzte Stellen, die an die abweisende Kirchenarchitektur der Gegenwart denken lassen. Und tatsächlich wurde hier zuletzt 1956 etwas verändert. Auch ist der Titel Dom eigentlich eine, wenn auch historisch legitimierte, Hochstapelei, da hier nie ein Bischof residierte. Natürlich zankten sich die Konfessionen um die Immobilie, was nach längerem Streit dazu führte, daß sie eine Simultankirche wurde – sie beherbergt sowohl die evangelische als auch die katholische Gemeinde. Und obschon Wetzlar an der Lahn und nicht am Po liegt, findet auch der Bolschewismus seine Heimstatt unter dem Dach des Gotteshauses, ganz wie in Guareschis Boscaccio. Hier allerdings amalgamiert mit der katholischen Gemeinde in Gestalt eines Pastoralreferenten, dessen politische Theologie ihn mit totalitären Parteien liebäugeln lässt. Nun ja. Der Dom zu Wetzlar – so will mir scheinen – ist eine treffende Allegorie auf Deutschland in seiner Geschichte und Gegenwart. Irgendwie unfertig, vernarbt, sich selbst nicht findend – und vom Zeitgeist unterhöhlt. Betritt man ihn aber, findet man Einsichten, die sich durch Worte nicht gut wiedergeben lassen. Schauen Sie selber.

Sven Stemmer

Arnold Welsch

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