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Aus Tradition modern: Brunsbüttel hat den Kanal voll

Aus Tradition modern: Brunsbüttel hat den Kanal voll

+Ein Flaneur sollte von Zeit zu Zeit seinen Alltagstrott durchbrechen. Erst ruft die Muße, dann küßt ihn die Muse. Eine solche Alltagsflucht aus seiner tugendhaft-preußischen Disziplin führt ihn dorthin, wo Tradition modern ist, wenn sie nicht eh als zeitlos gelten darf: Nach Brunsbüttel am Ende des Nord-Ostsee-Kanals. Damit diese Reise ans Ende der Welt (zumindest aus Sicht eines Hamburgers, dessen Horizont mit dem Ende der Elbe aufhört) in überschaubarer Zeit zu bewältigen ist, haben weitsichtige Menschen eine Bahnverbindung in Itzehoe mit einem Schnellbus vertaktet.

Auf diesem Wege kann der Mensch jede Art von Transportmittel zu Wasser und zu Land, und für einen kurzen Moment auch aus luftiger Höhe, satte 42 m über dem Wasserspiegel erleben. Schusters Rappen sind auch gefragt, jedoch in überschaubarem Maße. Und die Reise ist mehrheitlich wettergeschützt, sogar der Blanke Hans bleibt jenseits des Deiches draußen in der Elbmündung. Damit ist jeder Form der Mimosenhaftigkeit eines Schlechtwetterallergikers Genüge getan.

Zunächst besteigt der Flaneur einen Fast-Fernzug oder auch einen der echten InterCitys ab Hamburg und fährt nach Itzehoe. Dort verliert ein Fernzug seine E-Lok und seinen Flaneur. Bei der befahrenen Bahnstrecke handelt es sich um die traditionsreiche Marschbahn. Diese läßt der Flaneur jedoch heute hinter sich und steigt um in einen Schnellbus nach Brunsbüttel. Dieser fährt direkt vor dem Bahnhof ab und durchquert fast ohne Zwischenhalt die Wilstermarsch, vorbei an Schafen, Windrädern und auch echten Windmühlen, fast holländisch anmutenden Kanälen.

Der unstrittige Höhepunkt ist die Überquerung des Nord-Ostsee-Kanals suf einer Straßenbrücke mit steilen Rampen. Die Aussicht reicht vom fernen Cuxhaven am anderen Elbufer bis nach Wacken, dessen markant schwarzer Turm mit Werbung für das lauteste Trinkgelage der Welt die tiefsten Teile der norddeutschen Tiefebene überragt. Im Landeanflug auf Brunsbüttel durchquert man den Vorort des eigentlichen Zieles, vorbei an dem einen oder anderen Reetdachhaus oder auch manch einem gründerzeitlichen Gebäude, das zur selben Zeit entstand wie die meistebefahrene künstliche Wasserstraße der Welt.

Am Ziel angekommen, in der Nähe der Kanalschleusen, kann man ebendiese besuchen, oder aber vom Aussichtspunkt einen Überblick über die Schiffsschleusungen erhaschen. Der geneigte Flaneur möchte jedoch seine Beine vertreten und macht sich von der Bushaltestelle an der Nordseite des Kanals auf zur Fähre. Dieses Verkehrsmittel ist kostenlos. Dies übrigens seit Kaisers Zeiten. Das auf ewig ungeteilte Schleswig-Holstein sollte nach dem Geheiß des Monarchen nicht durch eine moderne Wasserstraße erneut entzweit werden.

Von der Wasserseite besehen wirken sowohl die neuen, als auch die alten Schleusenanlagen des Kanals durchaus imposant. Im Übrigen ist die Fährstrecke eine der längsten entlang des Nord-Ostsee-Kanals, und damit lohnenswert. Ebenso lässt sich der Baufortschritt der neuen, 5. Schleusenkammer beobachten. Diese soll die Schleusung noch größerer Schiffe ermöglichen und somit den Kanal für die Zukunft rüsten. Auf der Südseite des Kanals angekommen, besteht die Möglichkeit der Rückreise mit einem Bus in Richtung Itzehoe über schöne kleine Marschdörfer, die ihren ganz eigenen Charme haben.

Was nicht unerwähnt bleiben soll, ist die allgegenwärtige Präsenz zweier nunmehr stillgelegter Atomkraftwerke, die ehemals Angst und Schrecken verbreiteten, heutzutage jedoch in naher Zukunft eine erstaunliche Renaissance erleben könnten. Zumindest sind Windräder, die das tiefe Land heutzutage massenhaft überragen, rein gar nicht ästhetisch. Und oft mit erstaunlichen Folgen verbunden. Wesentlich appetitlicher dagegen ist das Bewusstsein, daß preußische Tugendhaftigkeit termingerecht und (fast) ohne Überziehen des Budgets eine moderne Errungenschaft für den Welthandel erschufen.

Jacobuskirche in Alt-Brunsbüttel

Jacobuskirche in Alt-Brunsbüttel

Manchmal muss ein Flaneur vor lauter Zeit-Genossen an einen solchen Kraftort kommen und sich seiner Wurzeln und Ahnen vergegenwärtigen, um die Stürme der Gegenwart überwettern zu können. In bester Seefahrertradition wird zum Beispiel auf der Schleuseninsel zwischen den großen, „neuen“, immerhin noch kaiserzeitlichen Schleusenkammern mit ihren wuchtigen Rolltoren ein kleiner Kiosk für die Seefahrer bereitgehalten, wo internationale Telephonate abgesetzt oder Waren des täglichen Bedarfs erstanden werden können. Oft ist dieser kleine Kiosk für sein internationales Publikum das einzige Ladenlokal zwischen Helsinki und Haiti.

Auch in Brunsbüttel erspäht ein Flaneur politisch korrekte Parolen und Zeichen. Dennoch steht hier eine Tradition fest verankert wie eine deutsche Eiche: Die christliche Seefahrt hat als abendländische Tradition ein Bewusstsein für Internationalität und Völkerverständigung. Dies braucht keinen Zeitgeist oder eine besondere Haltung. Es ist zeitlos, und hier an der Kanalschleuse ganz unprätentiös normal. Und das sorgt neben der guten Nordseeluft für ein tiefes Aufatmen beim Flanieren.

 

Sven Stemmer

Arnold Welsch

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