Zwischen den Jahren, zwischen den Grenzen
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Als Altjahresritual steht ein Grenzgang im Westen an. Kurz zuvor noch schnell die zahlreichen Verhaltensmaßregelungen zur Kenntnis genommen, das Reisendenfindeformular der belgischen Gesundheitsbehörden ausgefüllt, in der Nase gebohrt und ab durch die Hecke. Die Reise führt am Saum der Eifel entlang, am Tagebau Hambach und dem Hambacher Forst vorbei. Heute freilich war es den sonst kampfbereiten rotbesockten Zeitgenossen, die den Forst paramilitärisch okkupiert halten, offenbar zu kalt, und so lassen sie flanierend Reisende unbehelligt ziehen.
Der Grenzdurchbruch der belgischen Pandemie-Verteidigungslinie erfolgte an der Stelle, wo einst die Kriegsfront verlief. So sind stellenweise noch die Drachenzähne erkennbar, eine Panzersperre als Teils des Westwalls aus dem Zweiten Weltkrieg.
Die Ankunft in Belgien dagegen war erfrischend: Niemand interessiert sich für einfallende Teutonen, die dreifach muttersprachlichen Eingeborenen kommen ihrem geschäftigen Alltag nach und sind dabei angenehm unaufgeregt und erstaunlich fröhlich.
Irgendwie typisch belgisch. Die Ortsnamen sind auffallend Germanisch, teils aber Französisch unterlegt: Z. B. Kelmis (La Calamine).
Im nächsten Supermarkt eingekehrt und die Kaffeevorräte ausgeräumt – so will es der Brauch, denn hier gibt es guten holländischen Kaffee, der dem Flaneur konveniert und welchen er in seiner Heimat doch vermisste.
Erstaunen macht sich breit beim Anblick eines Feuerwerkgeschäftes: Hunderte(!) Meter lange Schlangen. Scharen von Teutonen darunter, die sich gut deutsch einfach brav anstellen. So ergeht es denen, die das Böllern nicht lassen können und den eigenartig verordneten Geschmack der hauseigenen Politkäserei umschiffen wollen.
Belgier – die schlimmsten von allen Galliern?
(…) horum omnium fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt (…) (G. Iulius Caesar, De Bello Gallico, I.1.3)
Cäsar selbst nannte die Belgier die furchterregendsten von allen Galliern. Dies und die Folgen daraus sind in Asterix tiefsinnig und humorvoll nachzulesen. Jedoch sollte man immer bedenken, unter welch‘ wenig kunstvollen, sondern eher pragmatischen Umständen das moderne Belgien entstand: 1830, nach dem Sieg über Napoleon, als Keil zwischen Deutschland und Frankreich gesetzt, bewusst zweisprachig, mit einem Königshaus aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha bekrönt, später noch um die Ostkantone erweitert, erscheint Belgien oft wenig glanzvoll – und die Brüsseler Bürokratie bleibt schon aus ästhetischen Gründen außen vor.
Allerdings sollte sich ein Flaneur gänzlich frei von solchen Bewertungen machen: Er wird belohnt mit gutem Essen, wunderschön beschaulichen Dörfern, atemberaubenden Mooren und Mittelgebirgen, einer warmen Herzlichkeit und sprachlicher Vielfalt auf engstem Raum. Er wird vielleicht eher Lütticher Patois hören als la langue à l’Académie Française. Oder Aentwaerps, das ist Niederländisch, so wohlklingend wie modernes Sächsisch, gepaart mit dem Stolz des bayerischen Freistaates. Oder man spricht eben eiflerisches Deutsch. Aber dennoch findet man in dieser Mikroregion ein Stück abendländisches Europa auf dem Raum eines sprichwörtlichen Bierkastens.
Belgien nimmt vieles gelassen. In den Geschäften mischt sich das Französische mit der Muttersprache der deutschsprachigen Belgier (genauer gesagt: oft tiefstes Moselfränkisch, wie man es aus Deutschland kaum kennt – die deutschsprachigen Belgier sind oft unter sich und pflegen daher ihre Mundart stärker. Selbstverständlich sprechen sie ebenso Französisch, wenn sie ihre kleine, kuschelige „Enklave“ von 70.000 Mitgliedern verlassen, etwa für Behördengänge oder den Besuch von höheren Bildungseinrichtungen.
Sie verstehen sich übrigens betontermaßen als Belgier, nicht als Deutsche. Der Grund liegt wie so oft in der spannungsreichen Geschichte dieser Gegend: Nachdem die Gebiete um Eupen, Malmedy und St. Vith nach dem Ersten Weltkrieg zu Belgien kamen, mussten die Neu-Belgier unter den Brauntotalitären gegen ihre belgischen(!) Landsleute auf deutscher Seite marschieren.
Daher haben sie möglicherweise gegenüber Berlin immer noch eine Prise Skepsis, aber sie stehen kulturell und sprachlich den anderen Deutschsprachigen nah. Und selbstverständlich sind sie offen für die deutschen Nachbarn, und wie alle Belgier sind sie Kompromisse gewöhnt. Und das macht sie zu Mitgliedern des Abendlandes par excellence.