Elche, Haff und Memelland, weit weg oder allgegenwärtig?
Heute flanierte ich in freudiger Erwartung des wöchenendlichen Ruhens in Lüneburg am ostpreußischen Landesmuseum vorbei. Der Anblick des Gebäudes wirkte etwas angestaubt. Warum steht hier in der alten Salzstadt so ein großes Museum? Ich wurde dann doch neugierig und ging hinein. Nachdem ich eine Eintrittskarte gelöst hatte, ging es los. Ich ging davon aus, daß es lediglich um die Flucht der Heimatvertriebenen ging und um den Kampf Staufenbergs gegen totalitäres Treiben. Aber weit gefehlt. Zunächst gab es Informationen über die erste bekannte Besiedlung des Gebietes durch baltische Stämme. Archäologische Funde zeigten das Handwerk und die Schaffenskünste der Menschen dieses Gebietes. Und auch deren Naturverbundenheit.
Ein weiterer Teilbereich war der preußische Adel. Viele Güter gab es, teils über Jahrhunderte besiedelt durch alte Geschlechter. Ein interessantes Augenmerk lag auf der Öffnung des Gutsbesitzes für Bürger. Das war im 18. Jahrhundert ein Novum. Daß das adlige und als autoritär gescholtene Preußen in einem so entfernten Land das aufstrebende Bürgertum förderte, erstaunte mich. Das Bürgertum als Motor von Innovation und Schaffenskraft in der frühen Industrialisierung. Das ist modern. Denn hier sind Menschen aktiv, die ihre Existenz gründen, die sich emanzipieren und in ihrer Selbstwirksamkeit stehen, denn sie tragen die volle Verantwortung für ihr Überleben. Sie haben keine Mäzene oder Förderer, außer daß die preußische Obrigkeit den Sinn einer Veränderung erkannte und dies forcierte.
Doch, so resümierte ich mein schulisch angehäuftes Geschichtswissen, war einmal. Spätestens 1945 fand dieses einstmals in Blüte stehende Land sein jähes Ende. Totalitäre Kräfte vertrieben die Ostpreußen und brachten braunrotes Leid über das Land. Nun reizte es mich, zu sehen, was vom alten noch existierte. Und was dort heute existiert. 1000 km gen Osten sind heutzutage nicht mehr ganz so beschwerlich zu bewältigen, jedoch eben auch kein Pappenstiel.
So eruierte ich den einfachsten Weg für eine Reise nach Altdeutsch-Fernost.
Nun gibt es im heutigen Polen durchaus Annehmlichkeiten wie Autobahnen und Schnellstraßen, die auch in entlegenen Gebieten rapide ausgebaut werden. Und es gibt ein sehr preiswertes Eisenbahnnetz, welches durchaus flächendeckend und modern ist. Es ist allerdings, einmal im Outback angekommen, etwas, sagen wir, lückenhaft. Auch ein ergänzendes Omnibusnetz befindet sich auf dem platten Land im Rückbau. Daher ist eine Benzindroschke als fahrbarer Untersatz eine ratsame Entscheidung.
So entschied ich mich für eine Kombilösung: Richtung Osten nahm ich einen Zug bis Posen. Dort nächtigte ich und schaute mir am Abend dieses lauen Sommers die Stadt an: Durchaus wirken die Gebäude hinsichtlich ihrer Architektur vertraut. Dies nahm ich als Vorgeschmack auf die mir bevorstehende zweite Etappe: Ich besorgte mir für die restliche Fahrt einen Mietwagen. Heute war mein Fahrtziel Masuren, weil dies das gelobte Land war, von der mir meine Großmutter ausführlich und regelmäßig zu berichten pflegte, genauer gesagt, Lötzen.
Auf dem Weg durchquerte ich Pommern und sah himmelweite Felder, das Korn reifte auf den Feldern und schimmerte golden gegen den blauen Himmel. Dies war wohl, was man früher als „Kornkammer“ bezeichnete. Weiter führte meine Fahrt durch zunehmend dichte Wälder. Dann tauchten zunächst kleine, später große Seen auf. Es summte in meinem Kopf. Das Land der dunklen Wälder. Schlussendlich erreichte ich Lötzen. Dort ließ ich mich nieder und flanierte durch die Stadt. Unübersehbar sind die großen Seen, die diese Stadt säumen. Und ebenso zeigte sich Architektur, deren Form und Gestaltung faszinierend preußisch aussah.
Es fiel natürlich auf, daß die polnische Sprache das Leben heute beherrscht. Jedoch war das Alte nicht zu übersehen. Und die Natur ist ohnehin zeitlos. Und ergreifend. Auf einer kleinen Reise ins Umland entfalteten sich wunde
rschöne Alleen, unter denen das automobile Flanieren ein Hochgenuss ist. Rund um den Mauersee lassen sich die untrüglichen Zeugnisse der totalitären Mischpoke ausmachen, die im Krieg sich hier versteckte und dafür sorgte, daß die Welt mit Unheil überzogen wurde, was leider auch ein oberschwäbischer Bombenleger nicht verhindern konnte.
Aber ich sah auch: Dunklen Wald, klare Seen, goldenes Korn und rollende Hügel. Hier könnte Gott den Preußen gesagt haben: „Macht dies Land urbar.“ Und auch ohne Preußen, sondern mit der heutigen Bevölkerung ist dieses so geblieben. Es sind nach wie vor Landwirte auf dem Feld, freilich heute mit modernem Gerät. Auch heute gehen hier die Uhren langsam und die Störche siedeln in ihren Nestern auf hohen Pfählen. Und zahlreich sind die
Mücken, deren Liebe zu geneigten Flaneuren buchstäblich unter die Haut geht.